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Werte – Das Rückgrat unserer Gesellschaft 5. Teil

Verstehen -Verstehen heißt nicht Verständnis

Ich missbillige, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen.“ Voltaire

Wir alle wollen verstanden werden. Das ist tief menschlich. Aber schon hier lauert die erste Falle: Verstehen ist nicht gleich Verständnis.
Klingt spitzfindig? Ist es nicht. Es ist ein entscheidender Unterschied, der im Alltag, in der Politik, in der Pflege oder im Familienleben über Harmonie oder Eskalation entscheidet. Es ist der Untschied, der heute vollkommen zu verschwimmen scheint. Statt Verstehen üben wir uns in Rechthaberei und Wahrheitsansprüchen.

Verstehen – eine Sache des Kopfes

„Ich verstehe, was du sagst“ bedeutet: Ich habe die Worte, die Logik und die Zusammenhänge erfasst. Das Gehirn setzt Puzzle-Stücke zusammen. Verstehen ist intellektuell. Neutral. Eine kognitive Leistung. Nach hunderttausenden Generationen Menschen auf diesem Planeten müsste nach meiner Meinung mehr Intelligenz vorhanden sein, so dass dieses Thema der Deutung gar keines mehr ist.

Beispiel: Ich kann verstehen, warum jemand vor Wut explodiert, weil er unter Druck steht, weil er ungerecht behandelt wurde, weil er zu lange geschluckt hat. Das heißt aber nicht, dass ich diese Wut gutheiße.

Verstehen ist also die Fähigkeit, etwas einzuordnen. Es heißt nicht automatisch: „Ich stimme zu.“ Wann haben wir also als sogenannte Hochkultur den Rückwärtsgang eingelegt und dräschen auf einander ein wie Primaten.

Verständnis – eine Sache des Herzens

„Ich habe Verständnis“ geht weiter. Da kommt Empathie ins Spiel, Mitgefühl, manchmal auch Mitleid. Verständnis öffnet die Tür zum Rechtfertigen: „Er konnte ja nicht anders …“ oder „Unter den Umständen ist das schon okay.“

Grundsatz: Nicht aber gar nichts ist okay, wo es in irgend einer Weise gegen geltendes Recht verstößt. Egal wer, egal wann und völlig egal warum!

Gesellschaftlich brandaktuell

„Wer nichts versteht, fürchtet alles.“ Marie von Ebner-Eschenbach

Nehmen wir ein Beispiel aus der Pflege, wo Werte und Verantwortung täglich auf die Probe gestellt werden:

  • Ich kann verstehen, dass Pflegekräfte am Limit sind, wenn sie dauernd einspringen müssen.
  • Aber ich muss nicht automatisch Verständnis dafür haben, wenn jemand deshalb Patienten unwirsch behandelt.

Oder ein anderes Beispiel:

  • Ich kann verstehen, dass Jugendliche von TikTok & Co. geprägt sind und sofortige Befriedigung erwarten.
  • Doch daraus erwächst nicht automatisch mein Verständnis, wenn sie im Job nach zwei Wochen „keine Lust mehr“ haben.

Das klingt hart? Vielleicht. Aber genau hier wird der Unterschied sichtbar: Werte brauchen Klarheit, nicht Weichspüler.

Führung und Verstehen

Gerade in der Führung, ob in Unternehmen, in der Politik oder in sozialen Einrichtungen, ist das Verwechseln von Verstehen und Verständnis fatal.

  • Verstehen heißt: Ich erkenne die Beweggründe, die Muster, die Emotionen.
  • Verständnis heißt: Ich stelle mich auf die Seite des Handelnden und legitimiere damit sein Verhalten.

Eine Führungskraft, die alles mit Verständnis zudeckt, verliert ihre Glaubwürdigkeit. Sie macht sich zum „Kumpel“ und gibt Orientierung auf.
Eine Führungskraft, die nur versteht, aber kalt bleibt, verliert die Menschen.

Die Kunst liegt in der Balance: Verstehen ohne automatisch Verständnis zu schenken. Sich neutral als Leader für alle Mitarbeiter sehen. (Sie merken, dieses Leaderdenken muss auch in der Politik die Grundlage für eine wieder stabile Demokratie schaffen.)

Psychologischer Hintergrund

Unser Gehirn liebt Abkürzungen. Wenn wir etwas verstehen, neigen wir dazu, auch Verständnis zu zeigen, das spart Energie und Konflikte. Doch psychologisch macht es einen Unterschied:

  • Verstehen aktiviert die kognitive Empathie: Ich kann mich in deine Lage versetzen.
  • Verständnis aktiviert die affektive Empathie: Ich fühle mit dir und teile deine Emotion.

Beides hat seinen Platz. Aber in einer wertebasierten Gesellschaft müssen wir unterscheiden: Verstehen darf nicht automatisch zur Entschuldigung werden.

Werte im Alltag: klare Kante

Wenn wir Verstehen und Verständnis trennen, bleiben unsere Werte stabil.

  • Ich kann verstehen, warum jemand zu schnell fährt, Zeitdruck, Stress, ein Termin. Aber Verständnis habe ich nicht, denn Regeln sind Regeln.
  • Ich kann verstehen, warum jemand seine Steuer nicht bezahlt Liquiditätsprobleme, Angst, Chaos. Aber Verständnis? Fehlanzeige.

Das Rückgrat der Gesellschaft sind Regeln, die wir gemeinsam tragen. Verständnis darf nicht zum Joker werden, der uns von Verantwortung entbindet. Hier beißt die Katze sich in den berühmten Schwanz. Wird es nicht von oben nach unten vorgelebt, verfallen die Sitten, Werte und Lebensgrundlagen, Stück für Stück, zunächst unmerklich, heute bereits spürbar und deutlich.

Warum das gerade jetzt so wichtig ist

Wir leben in einer Zeit der Grauzonen. Alles wird relativiert, alles hat „Gründe“. Doch wenn wir jedes Verhalten mit Verständnis ummanteln, verlieren wir die Orientierung.

  • In der Pflege führt das zu Dauer-Überlastung, weil immer wieder Verständnis für schlechte Strukturen aufgebracht wird, statt sie radikal zu ändern.
  • In der Politik führt das zu endlosen Rechtfertigungsschleifen, statt zu klaren Entscheidungen.
  • In der Gesellschaft führt es dazu, dass Werte beliebig werden und Beliebigkeit ist der Anfang vom Ende einer stabilen Gemeinschaft.

Hier geht es zu einem früheren Blogbeitrag, der die Situation in der Pflge gut beschreibt:

Generation Z lehrt uns, „Nein-zusagen“

Der Werte-Kompass: Verstehen ja – Verständnis nicht automatisch

Die Unterscheidung schärft unseren Kompass:

  • Verstehen heißt: Ich sehe dich. Ich erkenne, warum du so handelst.
  • Verständnis heißt: Ich trage deine Handlung mit, auch wenn sie gegen gemeinsame Werte verstößt.

Wenn wir das nicht trennen, verkommt unser Wertefundament zum Schwamm. Wir brauchen aber ein stabiles Rückgrat. Heute mehr denn je.

Fazit

Unsere Gesellschaft braucht Menschen, die klar unterscheiden:

  • Verstehen ja, unbedingt. Es schafft Nähe, vermeidet Eskalation, eröffnet Dialog.
  • Verständnis nur da, wo es unsere Werte nicht aufweicht.

Verstehen ist Kopf. Verständnis ist Herz. Beides hat seine Berechtigung. Aber wenn das Herz ständig das Steuer übernimmt, geraten wir ins Schleudern.

Verstehen ohne automatisches Verständnis, das ist erwachsene Haltung.
Und genau das macht Werte zu dem, was sie sein sollen: das Rückgrat unserer Gesellschaft.

Mein Plädoyer: Wir brauchen wieder mehr erwachsene Menschen in der Politik!

„Verstehen ist immer mehr als nur ein Nachvollziehen; es ist ein Sichhineinversetzen in den Horizont des Anderen.“ Hans-Georg Gadamer